Flucht und Vertreibung: Die Wunden der Vertreibung

Es war noch nicht lange her, da war noch von Blitzkrieg die Rede. Und von sehr, sehr viel neuer Heimat im Osten und Landgewinn. Dann brach alles zusammen. Flucht stand bevor.  In den Erinnerungen der Betroffenen liest sich das so:

In den Nachbarkreisen sind schon alle aufgebrochen. Ganze Dörfer und Landkreise werden gemeinsam evakuiert. Die russische Armee rückt vor. Auch der Aufbruch der eigenen Familie steht bevor. Mit dem gesamten mobilen Hab und Gut. Auf Pferden mit Wagen, Autos samt Benzin waren längst beschlagnahmt.

Die deutsche Bevölkerung wurde auf der Landkarte quasi parallel nach Westen verschoben. Auch in die DDR. Die Sudetendeutschen kamen nach Hessen und Baden Württemberg, die Ostpreußen nach Niedersachsen und Schleswig Holstein usw. Übrig blieben die Polen, die aus dem Osten selbst vertrieben wurden. Und die Tschechen, die keine Deutsche auf ihrem Territorium mehr duldeten.

Im Osten wie im Westen war Deutschland überflutet von Flüchtlingen, die untergebracht und versorgt werden mußten. Es blieben die Wunden der Vertreibung. Die Erschießungen, Vergewaltigungen, der Verlust von Hab und Gut blieben als Wunden der Vertreibung erhalten.

Geschichte kommt da noch einmal ganz nah. Erzählen in der Hoffnung, Verständnis für den Schmerz von damals zu finden. Damals waren sie ja Kinder.  Sich mitteilen kann heilen.

Das Erzählte klingt anders. Wenn Irmgard Born (aus Breese in der Marsch und Berlin) von ihrer Flucht berichtet, sieht sie die rundliche Tante Elma wieder vor sich, bei der sie mit anderen Kindern im Heu getobt hat. Auch das gab es während der Flucht. Und dass Tante Elma, weil sie nicht weg wollte, als alle gingen, dafür schrecklich büßen mußte. Ein Schreckensbild aus Irmgards Kindheit. Sie liest selbst.

Oder Dorothea Wilmans, die Großtante von Immo Harms (Groß Heide). Einfach losgehen und spontan aus Angst fliehen? Das war niemandem erlaubt. Beim ersten Versuch wurden sie zurück geschickt. Das Schulgebäude und die Wohnung waren inzwischen von anderen Flüchtlingen belegt. Erst als die Kreisleitung den Befehl gibt, geht es los. Ein Protokoll von Ort zu Ort. Schlafen auf dem Fußboden. Die NSV ist just verlegt worden, Essen gibt es also keins. Tiere brechen zusammen. Räder müssen repariert werden. Selbst als der Treck in Dannenberg ankommt, finden sie noch immer keine Bleibe. Erschöpft müssen weiter nach Uelzen, dort würden sie ihr Ziel erfahren. Und dann kommt Gifhorn.

Die Flucht von Ingerose Schepers, die Tante von Hieronymus Proske (Gümse und Hamburg) beginnt im März 1945, als die russischen Panzer in Schnellenwalde gerade mal drei km entfernt sind und die ersten Einschüsse ins Scheunentor krachen. Da starten Vater, kranke Mutter und Tochter Ingerose ihre Flucht. In einer 14stündigen Tour fahren sie in Richtung Friedeberg in die Sudeten.  Bei einem Halt in Ziegenhals zur medizinischen Versorgung der Mutter verschwinden die russischen Kutscher, weil sie Angst haben, von den Russen als Kollaborateure erschossen zu werden, es geht ohne sie weiter. Der Treck bleibt 14 Tage in Friedeberg. Tochter Ingerose überredet die Dorf-Apothekerin, ihr Zyankali-Kapseln für sich und die Eltern zu geben. Niemand weiß, wie schlimm es werden wird. Als die Vergewaltigungen beginnen, darf Ingerose nur noch versteckt hinten im Wagen fahren. Einmal klauen zwei Russen unwissentlich den Wagen mit ihr an Bord. Der Vater reitet hinterher und überredet sie, ihm den Wagen zu lassen und nur die Pferde zu nehmen. (Es liest Iha von der Schulenburg, Seedorf und Hamburg).

Alltag auf der Flucht, Kranke auf der Flucht. Walter Hietel, der Vater von Rike Bettermann, die auch liest (Künsche), hat für seine Famile „Etwas über mein Leben“ geschrieben – und zwar seine Flucht als Blinder. Man merkt es kaum, dass er blind ist. Er schreibt und spricht wie ein Sehender. Er kann Sprachen, darf als Übersetzer arbeiten und kommt dabei mit allen in Kontakt.  Einzig ist, dass er immer seine beiden Schreibmaschinen retten muß – die zum Setzen in Blindenschrift und die für Behinderte. Ihm fehlen die Finger einer Hand.

Gemocht wurden die deutschen Habenichtse, die einquartiert wurden und den Platz in der eigenen Wohnung einnahmen und um die gleichen Jobs buhlten, nur selten. Sie konnten froh sein, ihr Leben gerettet zu haben.

Hier sprechen die Opfer der Vertreibung. Die Kindergeneration erinnert sich, beschäftigt sich mit dem Nachlass der Eltern. Und die Täter, die ja auch zu unserer Großeltern- und Elterngeneration angehört haben und die ein so unfassbares Grauen angerichtet haben? In den Dokumenten, die wir bisher haben, ist davon wenig zu finden. Darüber muss es doch auch Zeugnisse in den Nachlässen geben. Die suchen wir. Und bitten dabei um Unterstützung.

 

Wann?

29.Juni 2018 | 19:00 Uhr

Wo?

Heider Chaussee 12, Große Heide, Gastwirtschaft Schulz