Kinderbiografien: Eltern schreiben über ihren Nachwuchs

Walter Reimann und seine Mutter

 

Kinderbiografien: Eltern schreiben über ihren Nachwuchs.

Müssen wir heute schon wieder spielen, was wir wollen? Dieser Satz aus der Zeit der 68er ist vielen geläufig. Er wird ja immer wieder zitiert, um die antiautoritäte Erziehung zu charakterisieren. Freiheit ist nicht einfach und will gelernt sein.

Kindermund war nicht nur während der 68er gefragt. Es gibt im Internet unendliche Sammlungen von Aussprüchen. Und sogar einen Verlag gleichen Namens. Also auch einen Markt.

Kindersprüche sind oft komisch, bringen ungefiltert auf den Punkt, wo Erwachsene zögern, sich zu offenbaren. Zum Beispiel wenn Besuch kommt und das Kind sofort fragt: „Wann geht ihr denn wieder?“ Die Gäste ahnen: Davon war die Rede und das Kind hat es mitgehört. Es drückt das von den Erwachsenen nicht gesagte aus.

Kindersprüche sind Dokumente ihrer Zeit. Sie sind politisch, ohne dass die Kinder es verstehen.

Aus den 30er Jahren hat das ‚Archiv der unveröffentlichten Texte‘ zwei handgeschriebene Hefte geschenkt bekommen, die Prof. Barbara Tietze (Vietze) auf dem Trödel gefunden hat. Sie ahnte, dass wir dafür eine Verwendung haben würden. Wer die Verfasser:Innen waren, wissen wir nicht. Klar ist an den Schriften, dass es mehrere waren.

So bekamen wir die Kinderbiografien aus einer Familie O.: Es sind die der Schwestern Christiane und Marianne. Christiane wurde 1932 und Marianne 1936 geboren. Die Eltern, Großeltern, vielleicht auch Tanten schrieben auf, was sie von ihnen zu hören bekamen, beschrieben, was sie sahen und hielten fest, woran die Kleinen sich später nicht mehr erinnern würden. Beide Bände sind auch deshalb als Dokumente wertvoll, weil es um die Kindheit im Nationalsozialismus ging.

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Bei einer Freundin entdeckte ich, dass sie immer wieder in der Kinderbiografie las, die ihre Mutter für sie geschrieben hatte. Kinderbiografien bleiben für die Beschriebenen ein Leben lang wichtig.

Die Freundin heißt Gisela Brackert und war Redaktionsleiterin im Hessischen Rundfunk, zuständig für das Frauenprogramm. Später wurde sie Synodale in der EKD. Während unserer Archivveranstaltung wird sie aus der Biografie lesen, die ihre Mutter Hilde Rausch über sie verfasst hat. Der Vater von Gisela – er kommt in dem Text vor – war Studienrat für Deutsch, Geschichte und evangelische Religion. Und war wegen Krankheit vom Wehrdienst freigestellt.

Alle vier Geschwister haben von ihrer Mutter Hilde Rausch eine Biografie bekommen. Die von Gisela geriet besonders ausführlich, weil sie die Älteste der vier Kinder war.

Einige Seiten darin waren der Mutter besonders wichtig. Sie zeigte immer wieder darauf, auch als Gisela sich noch längst nicht wieder für die Kindheit interessierte. Es ist eine detailgenaue Schilderung der Flucht der Familie mit allen vier Kindern im Februar 1945. Gisela war da fast acht Jahre, ihre Schwester Inge fünf Jahre, Mechthild, genannt Mausi, 2 Jahre und Hartmut, der Jüngste war gerade mal 8 Monate alt. Eine Flucht mit vier Kindern gegen Kriegsende. Gisela Brackert wird daraus lesen.

Es ist reine Zeitgeschichte, die wir in den Kinderbiografien erkennen.

Aber welcher Blick wird in Bezug auf das Kind eingenommen. Der der Eltern? Oder der des Kindes im Sinne einer Autobiografie? Im Fall von Walter Reimann (Barnitz und Berlin) ist es die Sicht des ungeborenen Kindes.

Charlotte Reimann, die Verfasserin, ist Walters Mutter. Sie ist im Archiv der unveröffentlichten Texte schon einmal zu Wort gekommen, als wir über Frauen während der NS-Zeit lasen. Der Künstler Walter Reimann hat damals – sehr bewegt - den Text seiner Mutter über die letzten Kriegstage in Berlin gelesen.

Die Familie Reimann gehörte während der NS-Zeit der Gruppe Emil an, eine Widerstandsgruppe, die nie aufflog. Die Reimanns waren in Berlin stadtbekannt durch ihr Kaffee in der Kantstraße. Ihnen gehörte das Cafe Reimann, in dem einst das Lied entstand:

    In einer kleinen Konditorei,
   da saßen wir zwei
   bei Kaffee und Tee….  

Walters frühe Geschichte - aus der Zeit vor seiner Geburt - heißt ‚Piepsmäuschens Zeitvertreib‘ und entstand am 10.2. 1948.

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Auch Peter Bauhaus, Drehbuchautor aus Klein Witzeetze, richtet seinen Blick auf ein Kind. Er schaut auf seinen Bruder, der starb, noch ehe er selbst geboren wurde. Peter Bauhaus wurde damit zu einem Ersatzkind, das die Eltern für den Verlust entschädigen sollte. Ein Bruder, der immer ein kleines Kind blieb, während er selbst wuchs und sich an den Eltern und deren Erwartungen rieb. Eine Rolle in der Geschwisterfolge, die zu immer neuen Rebellionen einlud. Ein schlechter Tausch, den die Eltern da gemacht hatten. „Ein schlechter Tausch“ heißt denn auch die Geschichte, die Peter Bauhaus lesen wird.

Wichtig ist Peter Bauhaus auch die Entwicklung, die er später gemacht hat. In einem Gedicht blickt Bauhaus 1972 auf den eigenen Nachwuchs. Dieser Text heißt „Rede auf ein noch ungeborenes Kind“.

 

Diese und ähnliche Geschichten werden erzählt, gelesen und diskutiert im „Archiv der unveröffentlichten Texte“. Und zwar am 24. April um 19 h. Wie immer in Groß Heide, Heider Chaussee 12, in der Gastwirtschaft von Sabine und Elfriede Schulz.

Kommt und hört. Diskutiert mit uns die Geschichten aus den eigenen Familien. Es freuen sich auf Sie/Euch die Mitglieder des „Archivs der unveröffentlichten Texte“: Antje Busse, Monika Eckoldt, Nina El Karsheh, Dr. Sibylle Plogstedt, Dr. Cora Titz, alle aus Groß Heide.

Wer dem Archiv der unveröffentlichten Texte eigene Arbeiten überlassen oder uns an den geschriebenen, aber nicht gehobenen Schätzen aus dem Familienbesitz, verfasst von früheren Generationen, teilhaben lassen will, wende sich an:

Dr. Sibylle Plogstedt, Heider Chaussee 7, 29451 Dannenberg. Tel: 05861- 9867575,
Mail: info@archiv-der-unveroeffentlichten-texte.de

 

Kleiner Hinweis zu den Fotos: Mit einem Mausklick auf einem Foto erscheint das Bild in voller Größe.

Wann?

25.Juni 2021 | 19:00 Uhr

Wo?

Groß Heide, Gastwirtschaft Schulz, Heider Chaussee 12