Schuldlos schuldig und doch keine Sühne:
Wie der Nationalsozialismus in den Familien aufgearbeitet wurde.

Täter-Texte aus der Zeit des Nationalsozialismus gesucht‘. Diesen Aufruf haben wir mehrfach veröffentlicht. Es ist offenbar gar nicht so einfach, authentisch über die Täter der eigenen Familie zu sprechen, von ihnen Geschriebenes öffentlich zu lesen, wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus geht. Es scheint immer noch unaussprechlich und mit Scham besetzt, wenn es da um den eigenen Großvater oder die Großmutter geht. Schweigen, verdrängen, zudecken. Nach fast 75 Jahren ist der öffentliche Diskurs oft genug noch sanktionsbewehrt. Wenn die Familie droht, den Kontakt abzubrechen oder gar eine Enterbung folgen könnte, mal ehrlich: Wer wagt es da öffentlich über dieses Familienkapitel zu berichten? Außer die Betroffenen haben selber darüber geschrieben für den ganz kleinen Kreis der Familie und die gibt den Text für unsere kleine Archiv-Veranstaltung frei?

Gefunden haben wir am Ende drei Menschen, die für sich und ihre Familien die Frage nach der eigenen Verantwortung gestellt haben.
Mit der eigenen Schuld hat sich z. B. der Vater von Ulrich Schröder (Blaues Haus, Clenze) beschäftigt. Heinrich Schröder (1914-1990) war ein Mann, der als 7-jähriger bei einem Unfall ein Bein verlor, der als 17-jähriger schon vor 1933 mit Leidenschaft Hitlerjunge wurde, der in der Reichsjugendführung die Karriereleiter emporstieg, und der als 37-jähriger, sechs Jahre nach Kriegsende, die Leitung eines Lehrlingsheims übernahm. Das alles war ein- und derselbe Mann, auch noch als er sich als 67-jähriger in der Friedens- und Umweltpolitik engagierte, nach längerer Mitgliedschaft die SPD verließ und sich den Grünen anschloss. Über seine Jugendjahre hat Heinrich Schröder sehr kritisch nachgedacht. Als 70-jähriger begann er seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Fünf Jahre später starb er, da hatte er gerade die Kapitel über seine Kindheit geschafft. In seinem Nachlass fand sich jedoch genügend Material, so dass sein Sohn Ulrich Schröder das begonnene Werk weiterführen konnte. Der Sohn wird aus der Biografie seines Vaters, aus diesem Leben im 20. Jahrhundert, lesen.

Gefunden haben wir in den Texten Selbstzweifel, Selbstbeschuldigungen, auch Selbstmitleid. Zum Beispiel bei Georg Ostendorff, einem Großonkel von Sibylle Plogstedt (Groß Heide). Er hat sich die Frage: ‚Schuldig oder nicht schuldig‘ an Hand von drei Entscheidungen, die er während des Krieges gefällt hat, ein Leben lang immer neu gestellt. Drei Untergebene sind gestorben, weil sie seine Befehle ausführten. Seine Bereitschaft, auch nachträglich die Verantwortung zu übernehmen, zeigt, wie belastend die Frage nach der eigenen Schuld war. Hätte der Tod von drei Soldaten vermieden werden können? Ostendorff fand keine Lösung. Die Frage hat ihn bis ins hohe Alter umgetrieben. Schuld oder nicht Schuld – das war Ostendorffs Lebensthema. Er machte es zum Beruf. Nach dem Krieg war er für viele Jahre lang Generalstaatsanwalt in Kiel.

Und andere Täter? Einen fanden wir. Einen der in Nürnberg angeklagt, aber nicht verurteilt wurde. In US Kriegsgefangenschaft war Herr Q. drei Jahre, drei Monate, drei Wochen und drei Tage. Mit ihm saßen in Haft Industrielle, Bankdirektoren, ein früherer General, ein Zahnarzt und einige Professoren. Vernommen wurde Q. nicht so sehr über konkrete Taten – sondern über die Verbindung der IG Farben zu anderen Betrieben. Darum ging es in den Vernehmungen überall, denn die Gefangenen wurden nach Versailles gebracht, nach Frankfurt und selbst in die USA.

Ganz Gefangener, ganz Oberschicht, stimmte Q. dem zu – unter der Voraussetzung, dass er angemessen gekleidet dorthin aufbrechen konnte. Er verlangte für sich eine Vernehmung auf Augenhöhe und deshalb einen Anzug, Stiefel, einen Pyjama, zwei bis drei Hemden, Strümpfe, Schlips, Taschentücher usw. Er bekam alles. In einem Militärtransporter in Begleitung eines Captains kam er nach Ellis Island, New York, eine Art Gefängnis für unerwünschte Ausländer, wo es wieder um die Industriegeheimnisse ging. Zurück in Deutschland kam er nach Kransberg im Taunus, dort saß er u.a. mit Speer, wo die Gefangenen sich sogar einen Flügel besorgen ließen, der wahrscheinlich in einem Privathaushalt beschlagnahmt worden war.

Während die ersten Urteile der Nürnberger Prozesse gefällt wurden, breitete sich in Kransberg bereits das Gerücht aus, dass sechs von ihnen dort ebenfalls vor Gericht gebracht werden würden. Q. hat seine Erfahrungen für seine Nachkommen aufgezeichnet. Klaus Bueb (Quickborn) ist einer von ihnen und liest daraus vor.

Diese und ähnliche Geschichten werden erzählt, gelesen und diskutiert im „Archiv der unveröffentlichten Texte“. Und zwar am 15. Februar um 19 h.
Wie immer in Groß Heide, Heider Chaussee 12, in der Gastwirtschaft von Sabine und Elfriede Schulz.

Kommt und hört. Diskutiert mit uns die Geschichten aus der eigenen Familie. Es freuen sich auf Sie/Euch die Mitglieder des „Archivs der unveröffentlichten Texte“: Antje Busse, Monika Eckoldt, Nina El Karsheh, Dr. Sibylle Plogstedt, Dr. Cora Titz, alle aus Groß Heide.

Aktuell suchen wir weitere Texte zu den Themen: 1. Weltkrieg, Neubeginn 1945, DDR, die alten Kolonien, deutsche Pastorenfamilien.

Wer dem Archiv der unveröffentlichten Texte eigene Arbeiten überlassen oder uns an den Schätzen aus Familienbesitz, verfasst von früheren Generationen, teilhaben lassen will, wende sich an: Dr. Sibylle Plogstedt, Heider Chaussee 7, 29451 Dannenberg. Tel: 05861-98 67 575, Mail: splogstedt@t-online.de.

Wann?

15.Februar 2019 | 19:00 Uhr

Wo?

Heider Chaussee 12, Große Heide, Gastwirtschaft Schulz