Sie war, wie sie war, die DDR: „Wenn Du nicht in die SED eintrittst, dann….“

Gabriele von Wuntsch, die Tochter von Gisela Schade

 

Drei Beispiele: Die Verhaftung einer Mutter nach dem 17. Juni, eine Lehrerkonferenz nach der Flucht einer Lehrerin und die inneren Konflikte ums Karriere machen in der DDR. Ging das, ohne in die SED einzutreten? Und wie kam man aus der Partei wieder raus?

Ulla Hickethier war von der SS aus ihrer Heimatstadt Guben an der Neiße vertrieben worden, weil die Stadt zur Kriegsfestung erklärt wurde. So kam sie am Ende des zweiten Weltkriegs nach Golßen, 60 Kilometer südlich von Berlin. Eigentlich hätte die 20-Jährige als Tochter von Handwerkern und armen Bauern dem Typus der neuen DDR Bürgerin entsprechen können: Sie konnte tippen, hatte eine kaufmännische Ausbildung und fand sogar eine Stelle in der staatlichen Plankommission, war dort für landwirtschaftliche Produkte zuständig. 1953 kam sie ins staatliche Komitee für Körperkultur und Sport. Doch dann kam der 17. Juni mit seinen Aufständen.

Eigentlich hatte Ulla mit diesen Demonstrationen wenig zu tun. Aber weil sich ihre Adresse in dem Telefonverzeichnis eines aktiven Kollegen befand, geriet sie ins Visier der Stasi. So wurde sie Anfang September festgenommen. Da außerdem ein Bekannter vorübergehend einen Koffer mit Büchern bei ihr untergestellt hatte, geriet sie in die Verdachtsmühle. Sie selbst kannte den Inhalt des Koffers nicht. Jedoch war ein Exemplar von Hitlers ‚Mein Kampf‘ darin und auch Eugen Kogons „Der SS-Staat“. Für eine Verurteilung reichte das. Fünf Jahre Zuchthaus stand in dem Urteil.

Als sie nach drei Jahren dennoch vorzeitig entlassen wurde, war ihr Sohn Knut bereits 11 Jahre alt. Drei lange Jahre hatte Knut bei seinen Großeltern gelebt und seine Mutter nicht gesehen. Zum Geburtstag nach der langen Trennung schenkte sie ihm Erich Kästners Buch „das fliegende Klassenzimmer“. Es ist die Geschichte von den Schülern eines Internats und ihrem Lehrer, der nach vielen Jahren mit Hilfe seiner Schüler seinen lang vermissten besten Freund wiederfindet.

Nach der Freilassung gingen Mutter und Sohn in den Westen. Der Sohn Knut Hickethier trägt seine Aufzeichnungen über die Haft seiner Mutter vor.

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Die Lehrerin Gisela Schade ist geflohen. Mit ihrem Kind, der Tochter Gabriele. Die Nachricht wird in der Schule bekannt gegeben. Wie aber reagierten Kolleginnen und Kollegen auf deren Flucht? In der eilends angesetzten Lehrerkonferenz folgt eine politische Distanzierung, jede Freundschaft und Kollegialität zu der bisherigen Lehrerkollegin wird geleugnet. Ihr sollten die Lehrerpatente entzogen werden, beschloss die Konferenz. Einer der Lehrer: „Er könne sie nicht mehr Kollegin nennen, ohne sich zu schämen. Ihr Verhalten zeige, dass sie keinerlei Verantwortungsbewusstsein habe, dass sie an der Gesellschaft verantwortungslos handele.“ Nur wenige Lehrer und Lehrerinnen wagen es zu widersprechen.

Die Tochter Gabriele, heute Gabriele von Wuntsch, war damals elf Jahre, als die Mutter mit ihr die DDR verließ. Die Mutter hatte schon viele Jahre eine Beziehung zu einem Ingenieur in Westberlin. Gabriele von Wuntsch dazu: Wir lebten in Hohenschönhausen und gingen gemeinsam in Weißensee zur Schule, sie als Lehrerin und ich als Schülerin der 5. Klasse. Meine Mutter hatte sich entschieden, die DDR und damit ihre Arbeit, ihre Eltern und Freunde zu verlassen, weil sie mit ihrem langjährigen Freund, einem Ingenieur aus Westberlin, zusammenleben wollte. Der verspürte keine große Lust in die DDR überzusiedeln. Legale Wege gab es nicht. Also blieb nur die illegale Übersiedlung in den Westen.“

Der Text, aus dem die Tochter lesen wird, handelt von den Reaktionen der Kolleg*Innen auf die Republikflucht der Mutter. Vom Protokoll dieser Konferenz gibt es eine heimlich verfasste Abschrift, die der geflohenen Mutter von befreundeten Kollegen zugespielt wurde.

Dem Archiv der unveröffentlichten Texte liegt das Protokoll dieser Lehrerkonferenz der 3. Mittelschule Berlin-Weißensee vom 9. April 1959 vor. Stellungnahmen, wie sehr die Flucht der Lehrerin der DDR geschadet habe, finden sich darin zuhauf. Der Mutter wird Verrat unterstellt an der DDR, an den Kollegen, an den Schülern wie am eigenen Kind. Zu ihrem Westberliner Partner, auch ein Verräter, weil er nicht in die DDR kommen wollte, hieß es dort: Mit seiner imperialistischen Haltung würde er am Ende vor allem dem Kind Gabriele schaden. Das war noch vor dem Bau der Mauer.

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Nun, es sind ja nicht alle gegangen. Grund genug für einen Blick in den Rückspiegel: Uta Thiel, nach 1989 Sprecherin des Neuen Forums in Salzwedel, legt Rechenschaft ab über ihre Entwicklung während der DDR-Zeit. Wie sie zu der wurde, die sie heute ist. Dazu liest sie aus ihrem Briefwechsel mit den Eltern, als sie in den 70er Jahren an der EOS, der erweiterten Oberschule, in Wernigerode im Harz zur Schule ging. Der Vater, Karl-Heinz Nehrke, war selbständiger Bäckermeister in Salzwedel. Selbstständige zählten zur benachteiligten Klasse S: A wie Arbeiter, B wie Bauern, I wie Intelligenz. S wie Sonstige. Uta geht auf eine Musikoberschule, die dem Gymnasium entspricht. Allerdings nicht in die in Salzwedel, sie muss in ein Internat in Wernigerode.

Gar nicht immer leicht für die Tochter, die unter Trennungsschmerz leidet und sich wie verrückt freut, wenn wieder ein Brief von zu Hause kommt. Oder wenn nach stundenlanger Fahrt die Eltern zu Besuch in den Harz kommen. Uta hat große Angst, im Internat keine Freundinnen zu finden. Sie fühlt sich ausgeschlossen, wenn ihr von Mitschülerinnen gesagt wird, ihre Anpassungsprobleme kämen daher, dass sie zu Hause ein Einzelkind gewesen sei und ihr jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde. Uta weiß, dass das nicht stimmt. Am Schlimmsten ist für Uta das Gefühl, sich keinem Menschen anvertrauen zu können.

In seinen Briefen geht der Vater ihre Vorwürfe gegen die Mitschülerinnen genau durch. Vor allem warnt er sie, vorzeitig die Schule zu verlassen: „Wenn Du dort aus der Zehnten abgehst, hast Du nur einen halben Vorbereitungsunterricht auf ein Musikstudium hinter Dir und kannst auf Praktika, wie es die Abgänger aus den POS (der zehnklassigen, polytechnischen Oberschule) haben, nicht verweisen. Du müsstest damit rechnen, überall hintangesetzt zu werden.“ Er warnt sie, dass daraus das Gerücht entstehen könnte, dass sie geflogen oder gar zu dämlich sei. Sein Rat: Zu den Lehrern ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen. „Sie haben die Verantwortung für Euch übernommen, also schenkt ihnen Euer Vertrauen.“ Auf Uta lastet der Anpassungsdruck durch den Vater.

„Meine Eltern wollten, dass mal was aus mir wird“, schreibt sie im Rückblick. Dass daraus ein Konflikt um Nähe und Distanz zur SED wird, ist nicht verwunderlich. Schon der Posten einer Leiterin der Kreisbibliothek verlangt den Eintritt in die SED. Als sie sich sträubt, folgt zunächst der sanfte Druck der Partei. Man habe ja schließlich dafür gesorgt, dass sie studieren dürfe…. Als sie immer noch zaudert, nimmt der Druck an Stärke zu: „Wenn du nicht in die Partei eintrittst….“ und bezieht sie selbst und auch die Zukunft ihrer Kinder mit ein. Was für ein Konflikt!

Diese und ähnliche Geschichten werden erzählt, gelesen und diskutiert im „Archiv der unveröffentlichten Texte“. Und zwar am 14. Februar um 19 h. Wie immer in Groß Heide, Heider Chaussee 12, in der Gastwirtschaft von Sabine und Elfriede Schulz.

Kommt und hört. Diskutiert mit uns die Geschichten aus den eigenen Familien. Es freuen sich auf Sie/Euch die Mitglieder des „Archivs der unveröffentlichten Texte“: Antje Busse, Monika Eckoldt, Nina El Karsheh, Dr. Sibylle Plogstedt, Dr. Cora Titz, alle aus Groß Heide.

Wer dem Archiv der unveröffentlichten Texte eigene Arbeiten überlassen oder uns an den geschriebenen Schätzen aus dem Familienbesitz, verfasst von früheren Generationen, teilhaben lassen will, wende sich an:

Dr. Sibylle Plogstedt, Heider Chaussee 7, 29451 Dannenberg. Tel: 05861-9867575,

Mail: info@archiv-der-unveroeffentlichten-texte.de

 

Kleiner Hinweis zu den Fotos: Mit einem Mausklick auf einem Foto erscheint das Bild in voller Größe.

Wann?

14.Februar 2020 | 19:00 Uhr

Wo?

29451, Dannenberg, OT Groß Heide, Heider Chaussee 12 im Gasthaus Schulz